Bad, Ugly und Gut
Philipp Modersohn, Ayumi Rahn, 2023
aus InterViews Heft 15: Die widerspenstigen Dinge
An einem Tag im August finden sich vier im
Gestrüpp der städtischen Gleiswildnis zurückgelasse Dinge zusammen: Ein Band
aus gezwirbelten Stahl, in Würfelform gegossene Schlacke, ein Stück
Verpackungsstyropor und ein Elektronikelement. Gemeinsam überwinden sie den
Zaun und ziehen durch die urbane Nachbarschaft, während sie über den Nutzen
ihres Daseins sinnieren. (Fotodokumentation siehe unten)
Protagonisten:
Stahl: Ehemals stolz, erhaben, vermutlich einmal
Funktionsträger innerhalb der Zugtechnik
Schlacke: Grob, pragmatisch, oberflächlich verbittert aber
sanft im Kern. Hatte vor langer Zeit eine Funktion als Pflasterstein zwischen
den Gleisen.
Styropor: Die Verkörperung moderner Widersprüchlichkeit:
elegant aber nur zum kurzen Zweck als Schutzverpackung produziert, deswegen dem
rapiden Verfall preisgegeben.
Elektronik: Mehrteilig, zerfahren, nervös. Die Zahnräder
drehen verloren vor sich hin. Funktion unbekannt.
Stahl Ich
bestehe aus formschön gezwirbeltem Stahl. Hier in der Gleiswildnis finden sich
viele meiner Art. Woher wir stammen, ist ein Geheimnis. Ich war möglicherweise
Schmuck. Oder hatte ich eine Funktion in der Zugtechnik? Wer erinnert sich
schon. Jetzt krieche ich hier herum und frage mich, ob ich jemals zu irgendetwas
nützlich war. Welche Kräfte haben mich auf diese Weise verzwirbelt und
verbogen? Ich erinnere mich an Hitze und Glut, die mich einst formten.
Schlacke Hitze
und Glut kenne ich gut! Ursprünglich war ich heiße, flüssige Schlacke,
entstanden als ein Nebenprodukt während Deiner Produktion, Stahl! Du beschwerst
dich auf hohem Niveau. Ich und meinesgleichen werden seit jeher als
minderwertig betrachtet. Von einer Funktion in der Zugtechnik oder gar
‘ästhetischer Verzierung’ können wir nur träumen. Ich zumindest hatte Glück,
dass ich in Würfelform gegossen wurde. So konnte ich mich nützlich machen als
Pflaster- oder Mauerstein. In meinem speziellen Fall war ich lange als Stein
zwischen den Gleisen tätig, bis ich irgendwann durch Jüngere ersetzt wurde. Aus
dem Großteil meiner Artgenossen wurde allerdings nichts, sie endeten kollektiv
als Schlackeberg. Was für ein Skandal! Ich bin gespannt, was die Zukunft noch
bringt. Ich hoffe, ein Dasein als Haufen bleibt mir erspart. Mir gefällt die
Würfelform. Undefinierte Formen machen mich nervös. Wer möchte schon als Haufen
enden?
Styropor Das
klingt nach einem tragischen Schicksal, Schlacke! Ich kann zumindest behaupten,
dass meine Form einzigartig ist. Ich wurde mit Bedacht gelasert, um ein
bestimmtes Objekt zu schützen und zusammenzuhalten. Für einen kurze Zeitspanne
war ich von unschätzbarem Wert, bis mein Schützling aus seinem Karton genommen
wurde. Mit diesem einen Moment war ich plötzlich nutzlos und landete
schließlich in der Gleiswildnis.
Elektronik Dann
kennen wir uns vielleicht? Waren wir nicht gemeinsam im Karton? Ein intimes
Verhältnis, ein enger Kontakt, Seite an Seite. Vielleicht auch nicht, denn ich
bin zu klein für dich. Doch bin ich inzwischen ja auch nur ein Bruchteil. Mich
braucht niemand zu beneiden, denn ich wurde längst durch Neues ersetzt.
Ausgetüftelt und fortschrittlich wie ich bin, war mein einziger Makel, dass ich
es nicht geschafft habe, lange aktuell zu bleiben. Das hat mir das Genick
gebrochen. Ich habe versagt und wurde schnell und ohne allzu viel Bedauern
entsorgt. Damit umzugehen ist nicht einfach. Es gibt gute und schlechte
Tage.
Stahl Das kann ich bestätigen. Mich überzieht der Rost, er
frisst mich langsam auf. Langsam zersetze ich mich und werde in winzigen
Teilchen im Boden fortgespült. Ob ich jemals einen wirklichen Zweck erfüllt
habe? Ich war so schön gezwirbelt und glänzend, stolz. Und jetzt seht mich an,
verbogen, verrostet und verfallen.
Styropor Auf
mir wachsen Moose! Grässlich! Ich kann mir selbst nicht mehr ins Gesicht sehen.
Das Alter ist brutal. Es fällt mir schwer, damit umzugehen. Ich war früher
wirklich so naiv, mich genauso wertvoll wie das Objekt zu fühlen, das ich
geschützt habe. Doch jetzt bin ich hier, tragischerweise immer noch von
moderner, architektonischer Schönheit, seht mich an, aber ohne wirklichen
Zweck, nutzlos und verschwende mich langsam. Während dieser fürchterliche Dreck
in meine Poren kriecht. Und dann denke ich an das glänzende Elektronikteil von
damals. Das steht bestimmt in einem Regal, oder auf einer Kommode und wird
regelmäßig abgestaubt.
Elektronik Schaut
mich an! Meine Regalzeit ist lange vergangen, so verschieden sind wir nicht.
Mein Problem ist, dass ich, anders als ihr, aus so vielen verschiedenen
Materialien bestehe. Plastik, Stahl, seltenen Erden. Eigentlich wäre ich ja
noch etwas wert! Aber niemand kümmert sich, und so verliere ich mich langsam in
meine Einzelteile, während die Zeit vergeht.
Stahl Das
ist eine Frage der Einstellung: Du könntest auch sagen, Du hast Dich
widerständig dem geölten Getrieben des Funktionieren entzogen.
Schlacke mit
gedämpfter StimmeIch muss sagen, ich fühle mich fast wie zuhause in dieser
urbanen Umgebung. Als ein Kind der Industrialisierung…
Elektronik leicht
nervös Aber seht mal, wie wir aus dieser Umgebung herausstechen.
Ich hoffe, uns bringt niemand zur Müllhalde. Da sind wir in der Gleiswildnis
sicherer.
Stahl Ihr
macht euch zu viele Sorgen. Schaut, wie die Menschen an uns vorübergehen,
niemand beachtet uns. Wir sind nur ein weiterer Teil der Stadtkulisse.
Styropor seufzt Ich wurde für einen bestimmten Zweck gefertigt. Und nun bin
ich Abfall. Es ist nicht fair. Erinnert meine Form nicht an ein Bauwerk? Ich
bin etwas Besonderes. Warum stellt man mich nicht ins Regal? Oder zumindest auf
einen Sockel. Ich wäre es wert, von allen Seiten betrachtet zu werden. Zu
Kartonzeiten war ich verpackt, da hat man mich auch nicht gewürdigt.
Schlacke Hör
auf zu jammern.Wir sollten uns nicht über unsere Vergangenheit
definieren. Schauen wir, was wir in der Gegenwart sein können: Teil dieser
gebauten Stadtlandschaft. Wir passen perfekt hier hin. Überall erkenne ich
unsere Formen wieder. Wir sind die DNA der Stadt.
Elektronik Ganz
genau! Auch wenn wir keinen Nutzen haben, bedeutet das nicht, dass wir keine
Wirkung haben. Wir prägen das Stadtbild, dienen als Orientierung und geben
Unterschlupf, stehen im Weg und dünsten giftige Stoffe aus, so wie es uns
gefällt.
Stahl Ihr
seid alle einzigartig! Du bist ein technologisches Wunderwerk, Elektronik, all
deine Einzelteile und deine Gesamtheit sind immer noch viel wert. Styropor, du
versprühst mit Leichtigkeit, Eleganz ein gewisses architektonisches Flair. Und
Schlacke, du bist stark und schön!
Styropor Danke.
Es tut gut, das zu hören. Sie finden sich schließlich auf dem
Friedhof wieder. Zwischen Grabsteinen und in der Abendsonne offenbart sich
ihnen eine Atmosphäre der Ehrfurcht und des Respekts. Die Menschen wandern
zwischen den Gräbern, während die vier Dinge neugierig die Szenerie betrachten.
Die Stille des Ortes lässt sie innehalten und über ihr eigenes Sein nachdenken.
Stahl leise Schaut
euch nur um. Dieser Ort strahlt eine solche Ruhe aus. Es ist, als würden die
Grabsteine Geschichten erzählen.
Styropor nachdenklich Ja,
es ist ein Ort der Erinnerungen. Ich frage mich, welche Geschichten die
Menschen hinterlassen. Ob sie unseren wohl ähneln?
Schlacke Nichts
in der Welt besteht für immer. Vielleicht empfinden wir verschieden, aber
letztendlich teilen wir alle denselben Weg.
Stahl Auch
wenn ich hier ende, habe ich vielleicht eine Rolle gespielt, die ich selbst
nicht kenne. Vielleicht als Teil eines größeren Kreislaufs?
Schlacke Auch
wenn wir nicht mehr unseren ursprünglichen Zweck erfüllen, sind wir präsent und
haben eine Wirkung auf unsere Umgebung.
Elektronik Wir
sind das beste Beispiel dafür, dass alles in dieser Welt einen Platz hat und
eine Rolle spielt, selbst wenn sie nicht auf den ersten Blick ersichtlich
ist.
Stahl Menschen,
Tiere, Pflanzen und wir Dinge, alle lösen wir uns irgendwann auf und werden
wieder zu Boden.
Elektronik mit
Bedacht Es ist seltsam, hier auf dem Friedhof erkennen wir
unsere Gemeinsamkeiten.
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